Diagnostik und Konsequenzen bei genetisch bedingter
Disposition zu Krebserkrankungen des Kolons und der Mamma
Matthias Jungck, Medizinische Klinik und Poliklinik I, Bonn
Bei einer kleinen Zahl der Krebserkrankungen ist eine über die
Keimbahn geerbte Disposition für die Erkrankung verantwortlich. Diese
erblichen Tumordispositionserkrankungen folgen einem autosomal-dominanten
Erbgang mit einem 50%igen Risiko für die Nachkommen, die Disposition
ebenfalls geerbt zu haben. Die Identifizierung der molekulargenetischen
Grundlagen für eine Vielzahl dieser erblichen Tumordispositionserkrankungen
macht es heute möglich, einerseits die Erblichkeit der Erkrankung
zu beweisen und andererseits– viel wichtiger – in Familienuntersuchungen
die Personen zu identifizieren, die diese Disposition ebenfalls geerbt
haben, also Anlageträger sind. Die Möglichkeiten der Diagnostik
und die sich daraus ergebenden Konsequenzen sollen am Beispiel des erblichen
Kolonkarzinoms ohne Polyposis und des familiären Mamma- und Ovarialkarzinoms
dargestellt werden.
Das erbliche Kolonkarzinom ohne Polyposis (hereditary non-polyposis
colorectal cancer, HNPCC, Lynch-Syndrom) wird für ca. 5% aller CRCs
verantwortlich gemacht. Es hat keinen eindeutigen Phänotyp, der dieses
Krankheitsbild von einem nicht-erblichen Kolonkarzinom abgrenzen könnte.
Für ein HNPCC sprechen: junges Erkrankungsalter des Patienten, rechtsseitige
Lokalisation des Tumors, syn- und/oder metachrone Tumoren, undifferenzierter
Tumor mit starkem lymphozellulären Infiltrat, positive Familienanamnese
(Kriterien s.u.). Weitere Tumoren, die beim HNPCC auftreten, sind v.a.
Tumoren des Endometriums, des Dünndarms und des Urothels. Molekulargenetisch
sind diese Tumoren durch eine ausgeprägte genomische Instabilität
(Mikrosatelliten-Instabilität, MSI) gekennzeichnet, was auf einen
Fehler in der DNA-Reparatur des Gewebes hinweist. Dieser wird durch Keimbahnmutationen
in einem von fünf DNA-Mismatch-Reparatur-Genen verursacht (hMSH2,
hMLH1, hPMS2, hPMS2, hMSH6/GTBP). Patienten, bei denen aufgrund klinischer
Kriterien bzw. aufgrund einer nachgewiesenen MSI im Tumor ein starker Hinweis
auf ein HNPCC vorliegt, sollten auf Keimbahnmutationen in den Genen hMSH2
und hMLH1 untersucht werden. Erst wenn bei einem Indexpatient die Identifizierung
der Keimbahnmutation gelungen ist, kann in Familienuntersuchungen herausgefunden
werden, wer der erstgradig Verwandten ebenfalls eine Tumordisposition geerbt
hat und daher in ein engmaschiges Vorsorgeprogramm aufgenommen werden sollte
(s.u.). Da bei HNPCC-Patienten auch das Risiko für Zweittumoren stark
erhöht ist, werden therapeutische Konsequenzen, wie z.B. die subtotale
Kolektome als Primärtherapie des CRCs oder prophylaktische Operationen,
intensiv diskutiert. Das CRC-Risiko für Anlageträger beträgt
ca. 80% bis zum 80. Lebensjahr, das Endometrium-Karzinom-Risiko wird mit
40-60% angegeben.
Für ein familiäres Mamma- und Ovarialkarzinom sprechen junges
Erkrankungsalter, syn- und/oder metachrone Tumoren und eine positive Familienanamnese.
5-10% aller Mamma-Karzinom-Erkrankungen scheinen erblich zu sein. Es sind
bisher zwei ursächliche Gene bekannt (BRCA1 und BRCA2, BRCA=breast
cancer), die zusammen jedoch nur für ca. 50% der Erkrankungen verantwortlich
sind. Beide Gene codieren für Proteine, die an der Reparatur von DNA-Doppelstrangbrüchen
beteiligt sind. Patientinnen, die die klinischen Kriterien erfüllen
(s.u.), sollten auf Keimbahnmutationen untersucht werden. Auch hier gilt,
daß erst nach Nachweis einer Mutation beim Indexpatienten eine Familienuntersuchung
angeboten werden kann. Das Risiko einer Brustkrebs-Patientin mit einer
BRCA-Mutation, ein Karzinom der kontralateralen Brust zu bekommen, beträgt
ca. 60%. Anlageträgerinnen haben ein Risiko von ca. 85% für ein
Mamma-Karzinom und ein Risiko zwischen 30 und 65% für ein Ovarialkarzinom.
Daher sollten intensive Vorsorgeuntersuchungen durchgeführt werden
(s.u.). Aufgrund des Zweitkarzinom-Risikos wird bei dieser Erkrankung z.B.
die prophylaktische Oophorektomie diskutiert.
Die molekulargenetischen Untersuchungen sind bei beiden Erkrankungen
aufwendig und langwierig. Den Patienten sollte vor Einleitung der Diagnostik
eine eingehende klinische humangenetische Beratung angeboten werden, die
präsyptomatische, prädiktive Diagnostik bei nicht-erkrankten
Familienmitgliedern ist an die Durchführung einer klinischen und humangenetischen
Beratung gebunden. Die Deutsche Krebshilfe unterstützt im Rahmen von
Schwerpunktprogrammmen sechs HNPCC-Zentren und 10 Zentren für das
familiäre Mamma- und Ovarialkarzinom. Diese sollten bei Verdachtsfällen
kontaktiert werden, um das weitere Vorgehen abzusprechen. Bei V.a. eine
erbliche Tumordispositionserkrankung kann man sich aber auch an jedes Institut
für Humangenetik wenden.
Kriterien für einen Verdacht auf HNPCC
Amsterdam-Kriterien (International collaborative group for HNPCC (ICG-HNPCC))
alle Kriterien müssen erfüllt sein
Ziel: Einheitliche Aufnahmekriterien für wissenschaftliche Untersuchungen
(v.a. Genkartierung)
Drei Betroffene mit kolorektalem Karzinom in
zwei aufeinanderfolgenden Generationen
einer mit den beiden anderen erstgradig verwandt
einer vor dem 50. Lebensjahr erkrankt
FAP ausgeschlossen
Erweiterte Amsterdam-Kriterien (ICG-HNPCC)
Ziel: Berücksichtigung der extrakolonischen Manifestationen
wie Amsterdam-Kriterien, aber Berücksichtigung von extrakolonischen
Tumoren:
Übergangsepithel-Karzinom des Nierenbeckens oder des Ureters
Endometriumkarzinom bei Frauen
Dünndarmkarzinom
Bethesda-Kriterien (National Cancer Institute, USA)
ein Kriterium muß erfüllt sein
Ziel: Selektionierung von Tumoren, die auf Mikrosatelliteninstabilität
untersucht werden sollten
Tumoren von
Patienten, deren Familie die Amsterdam-Kriterien erfüllen
Patienten mit zwei Tumoren aus dem HNPCC-Spektrum (auch synchrone und
metachrone Tumoren des gleichen Organs)
Patienten mit CRC und einem erstgradig Verwandten mit einem Tumor aus
dem HNPCC-Spektrum oder einem kolorektalen Adenom. Das Karzinom muß
vor dem 45., das Adenom vor dem 40. Lebensjahr diagnostiziert worden sein.
Patienten mit CRC oder Endometriumkarzinom vor dem 45. Lebensjahr
Patienten mit undifferenziertem CRC des rechtsseitigen Colons vor dem
45. Lebensjahr
Patienten mit siegelringzelligem CRC vor dem 45 Lebensjahr
Patienten mit kolorektalen Adenomen vor dem 40. Lebensjahr
Vorsorgeempfehlungen für HNPCC-Risikopersonen (ICG-HNPCC)
(Nachsorge bei Betroffenen sollte sich an diesen Empfehlungen orientieren)
Ab dem 20. Lebensjahr:
jährlich körperliche Untersuchung incl. Hämoccult-Test
und Ultraschall Abdomen
alle 1-2 Jahre hohe Koloskopie
Ab dem 30. Lebensjahr zusätzlich:
jährlich Urinzytologie
bei Frauen jährlich gynäkologische Untersuchung incl. Gebärmutterabstrich
und transvaginalem Ultraschall
Familiäres Mamma- und Ovarialkarzinom: Definition der Risikofamilien
(Deutsche Krebshilfe)
2 Erkrankte an Mamma- oder Ovarial-Ca., davon 1 vor dem 50. LJ
1 Erkrankte an bilateralem Mamma-Ca. oder Mamma- und Ovarial-Ca.
Eine Erkrankte an Mamma-Ca. vor dem 35. LJ
Eine Erkrankte an Ovarial-Ca. vor dem 40. LJ
1 männlicher Erkrankter mit Mamma-Ca.
Vorsorgeempfehlungen für Betroffene und Risikopersonen bei familiärem
Mamma- und Ovarialkarzinom (Deutsche Krebshilfe)
wöchentliche Selbstuntersuchung nach ärztlicher Einweisung
ärztliche Untersuchung alle 3 Monate
apparative Untersuchungen alle 6 Monate
Ultraschall der Mammae
Ultraschall der Ovarien
CA 12-5
apparative Untersuchungen alle 12 Monate (Angaben für Bonn, das
Vorgehen kann von Zentrum zu Zentrum etwas unterschiedlich sein)
Frauen ( 50J.: Kernspintomographie Mammae
Frauen > 50J.: Mammographie
Ausgewählte Literatur
Ford D, Easton DF, Stratton M et al. (1998) Genetic heterogeneity and
penetrance analysis of the BRCA1 and BRCA2 genes in breast cancer families.
The Breast Cancer Linkage Consortium. Am J Hum Genet 62:676-689
Holinski-Feder E, Brandau O, Nestle-Krämling C et al. (1998) Genetik
des erblichen Mammakarzinoms: Grundlagen – Forschung – Diagnostik. Deutsches
Ärzteblatt 95: A600-605
Jungck M, Friedl W und Propping P (1999) Erblich bedingte gastrointestinale
Tumorerkrankungen. Internist 40:502-512
Papadopoulos N und Lindblom A (1997) Molecular basis of HNPCC: Mutations
of MMR genes. Human Mutation 10:89-99
Vasen HF, Wijnen JT, Menko FH et al. (1996) Cancer risk in families
with hereditary nonpolyposis colorectal cancer diagnosed by mutation analysis.
Gastroenterology 110:1020-1027
Nützliche WWW-Adressen
OMIM (online Mendelian Inheritance
in Man, ständig aktualisierte Datenbank über monogen-erbliche
Erkrankungen)
Homepage der „International Collaborative
Group on HNPCC (ICG-HNPCC)„ (Mutationsdatenbank hMSH2 und hMLH1, Vorsorgeempfehlungen)
BRCA-Seite
am NIH
Deutsche Krebshilfe
Human Mutation Database
Cardiff
Matthias Jungck
Medizinische Klinik und Poliklinik I (Direktor Prof. Dr. T. Sauerbruch)
Universität Bonn
Sigmund-Freud-Straße 25
53105 Bonn
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